Der Syrer Alaa lebt seit acht Monaten in Deutschland. Doch der Bauingenieur spricht nicht nur Arabisch, sondern auch gut Englisch und Deutsch. Er hilft Flüchtlingen in Friedrichshafen, sich in der Stadt zurechtzufinden.
Nebel schwebt über Friedrichshafen. Am Vormittag sind die Straßen leer, nur ein junger Mann läuft über den gepflasterten Rathausplatz. Seine dunkelbraune Wollmütze hat er tief in die Stirn gezogen. Plötzlich wird er von drei syrischen Männern angesprochen. Sie brauchen seine Hilfe: Seit Monaten warten sie auf ihren Asylantrag. Im Rathaus wollen die Männer nachfragen. Der junge Mann versucht sie zu beschwichtigen, auf Arabisch. Auch eine Flüchtlingshelferin im Rentenalter braucht seine Hilfe, Englisch kann sie nicht. Aber der junge Mann muss sie enttäuschen: Am Bahnhof warten schon drei Frauen aus dem Irak auf ihn. Er will ihnen helfen, sich in der neuen Stadt zurechtzufinden.
Er hat viel erlebt
Der junge Mann mit der braunen Wollmütze heißt Alaa. Er ist selbst erst vor acht Monaten aus Syrien gekommen, trotzdem ist er für alle anderen da. Die vereinzelten grauen Barthaare lassen darauf schließen, dass er mit seinen 33 Jahren schon weitaus mehr erlebt hat, als die meisten in seinem Alter. Alaa ist ein höflicher Mensch und nimmt sich selbst für andere oft zurück. "Wenn ich jemanden sehe, der Hilfe braucht, helfe ich. Und wenn mich jemand anruft, gehe ich sofort zu ihm, ohne zu zögern", sagt er auf Englisch. Heute sei nicht sein Tag. Normalerweise spreche er auch sehr gut Deutsch.
Anfangs habe er sich übernommen, sagt Sabine Hornig. Sie arbeitet bei der diakonischen Bezirksstelle in Friedrichshafen und kennt Alaa, seit er in Friedrichshafen ist. Weil er alles immer schnell haben will. Am liebsten sofort. Deshalb hat er gleich einen Deutschkurs für Fortgeschrittene besucht. Aber wenn man alles sofort haben will, überschlägt man sich auch. Und Frust kommt auf. Aber Alaa ist kein Mann, der sich von Enttäuschungen runterziehen lässt. Er hat dann doch einen Anfängerkurs besucht.
Ein enges Team
Die ersten wärmenden Sonnenstrahlen haben sich mittlerweile durch den Nebel gekämpft. Drei junge, modern gekleidete Frauen sitzen auf einer grünen Bank vor dem Bahnhofsgebäude. Als sie Alaa erblicken, breitet sich ein Lächeln auf ihren Gesichtern aus. Alaa steht jetzt vor ihnen. English? A little bit. Deutsch? Kopfschütteln. Seit fünf Wochen leben die drei in der Flüchtlingsunterkunft im Fallenbrunnen. Afrah und Seine sind Schwestern, Ikram haben sie in Mannheim kennengelernt. Dort waren sie vorher untergebracht. Männer haben sie keine. Die drei sind ein enges Team. Sie kochen zusammen, sie schlafen zusammen: Sie sind immer zusammen. Es ist wichtig, jemanden zu haben, der nach einem schaut. Wenn man traurig ist und wenn man glücklich ist. Heute ist Alaa für sie da. Er möchte mit ihnen zu Sabine Hornig gehen, weil er weiß, dass ein Netzwerk wichtig ist. Wenn Alaa mit den Frauen auf Arabisch spricht, lächeln sie und legen ein Stück ihrer Unsicherheit ab.
Auf dem Weg zu Sabine Hornig laufen Alaa und die Frauen doch noch am Rathaus vorbei. Denn Alaa hilft, wenn er kann. Die Männer, die er vorhin getroffen hat, kommen gerade aus dem Rathaus. Gebracht hat ihnen das Gespräch dort nicht viel. Alaa übersetzt: "Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie fühlen sich wie kleine Kinder, die sich verlaufen haben. Sie sind hilflos." Aber er könne dem Staat nichts vorwerfen. "Es sind einfach zu viele", sagt er. "Wenn man nur ein Kind hat, kann man sich gut darum kümmern. Aber wenn es sechs sind, wird es schwieriger." Er hat immer einen passenden Vergleich. Überhaupt redet Alaa gerne. Auf Deutsch, Englisch oder Arabisch.
Die Frauen folgen Alaa durch die Fußgängerzone. Für sie ist er die einzige Orientierung in einer fremden Umgebung. "Hier bin ich vor acht Monaten angekommen", sagt Alaa und zeigt auf ein weißes Mehrfamilienhaus an der Ailinger Straße. "Es war schrecklich. Die Unterkunft war voller Menschen. Ich konnte nicht atmen." Vier Tage hat er es nur ausgehalten. Dann bekam er Hilfe von der Ehrenamtlichen Katrin Ziegler. "Für Alaa war es ein Kulturschock." Deshalb holte Ziegler ihn nach Absprache mit dem Landratsamt zu sich nach Hause. Zwei Monate schlief er bei ihr im Wohnzimmer, bis er eine eigene Wohnung hatte. Wenn Alaa von Katrin Ziegler spricht, dann lächelt er: "Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen." Denn als er bei ihr eingezogen war, konnte er in Ruhe anfangen, zu studieren und Deutsch zu lernen. Alaa ist Bauingenieur. Deshalb besucht er einen Kurs beim Christlichen Jugenddorfwerk Deutschland. Dort werden Ingenieure mit ausländischem Abschluss auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Heute aber hat Alaa sich für ein paar Stunden freistellen lassen, um zu helfen.
Frauen haben Außenseiterrolle
In der Scheffelstraße wird die Gruppe von Sabine Hornig empfangen. Zusammen setzen sie sich an einen kleinen runden Tisch in Hornigs vollgestelltem Büro. "Fühlen Sie sich sicher?", fragt Hornig. Alaa übersetzt. Die Frauen nicken und lächeln. Ein langes Gespräch mit sensiblen Fragen folgt. Es stellt sich heraus, dass sie als alleinstehende Frauen eine Außenseiterrolle in der Unterkunft spielen. Nach dem Gespräch zeigen sich die Grenzen von Alaas Hilfe: Es gibt Themen, die können Frauen nur unter sich besprechen.
Alaa würde trotzdem alles dafür tun, um anderen zu helfen. Es sei genauso, wie einen Berg zu besteigen: "Wenn du am Gipfel bist, musst du die anderen auch hochholen, damit sie festen Boden unter den Füßen haben." Dann geht er schnell los, er darf nicht zu spät zum Unterricht kommen. Die Frauen bringt er aber zum Bahnhof zurück. Und über Frie-drichshafen strahlt die Sonne.
Mit dem Thema "Flüchtlinge und Heimat" haben sich 14 Stipendiaten der Journalisten-Akademie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die drei Wochen in der Redaktion in Ravensburg zu Gast waren, intensiv beschäftigt. Dabei entstanden auch zwei Artikel, die sich mit Friedrichshafen befassen. Heute erscheint der erste Beitrag.